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„KI ist kein Tool, sondern ein Arbeitsprinzip“ – Im Gespräch mit Jan Marius Marquardt über Schatten-KI, Strukturen und Agenten-Reife

Wie gelingt der Schritt von der inoffiziellen KI-Nutzung zur echten Wertschöpfung? Im Interview mit Jan Marius Marquardt, CEO & Co-Gründer der Zive GmbH, sprechen wir über Schatten-KI als Innovationssignal, über die Bedeutung interner Strukturen – und über die Frage, wann Unternehmen bereit für KI-Agenten sind.
Jan Marius Marquardt

Künstliche Intelligenz wird in vielen Unternehmen längst genutzt – oft jedoch ohne offizielle Freigabe, jenseits bestehender Prozesse, Governance-Strukturen und Rollenverteilungen. Diese sogenannte „Schatten-KI“ zeigt nicht nur bestehende Lücken, sondern auch deutlich, wo der digitale Veränderungsdruck bereits angekommen ist.

Im Gespräch mit Jan Marius Marquardt analysieren wir, welche Risiken mit ungesteuerter KI-Nutzung verbunden sind – und wie Unternehmen diesen Impuls gezielt in eine strukturierte, wertschöpfende Strategie überführen können. Dabei wird deutlich: Technische Lösungen reichen nicht aus. Entscheidend ist, ob Fachabteilungen, IT, Geschäftsführung und Recht gemeinsam an der Umsetzung arbeiten.

Wenn Rollen, Regeln und Rückkanäle klar sind, ist ein KI-Agent kein Sprung ins Ungewisse – sondern die logische Fortsetzung dessen, was ohnehin schon funktioniert“, betont Marquardt. Ein Gespräch mit hohem Praxisbezug – insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen mit noch geringer digitaler Reife.

Herr Marquard, viele Unternehmen setzen KI ein – aber oft ohne offizielle Freigabe. Was sagt uns das über die tatsächliche Nutzung und die strukturellen Lücken?

Dass die Technologie längst im Alltag angekommen ist – nur die Unternehmen noch nicht. In unseren Gesprächen sehen wir Mitarbeitende, die sich selbst helfen: Sie schreiben erste Mail-Entwürfe mit einem Chatbot, lassen Meetings zusammenfassen oder suchen Formulierungen für Angebote. Das ist kein Ungehorsam, sondern ein Symptom: Regeln, Zuständigkeiten und ein sicherer, einfacher Zugang fehlen. Ein aktueller MIT-Bericht spricht davon, dass 95% der Gen-AI-Pilotprojekte am Ende scheitern – nicht, weil die Modelle schlecht sind, sondern weil Strukturen fehlen.

Und die Europa-Zahlen passen dazu: Nur ein kleiner Teil der Unternehmen setzt KI bereits offiziell ein; sogar bei Großunternehmen liegt der Anteil noch weit unter der Hälfte. Das erklärt, warum Schatten-KI entsteht: Menschen wollen Probleme lösen, bevor Governance hinterherkommt.

Welche konkreten Schatten-KI-Anwendungen begegnen Ihnen aktuell besonders häufig – und was macht sie so attraktiv für Mitarbeitende?

Es sind die banalen Dinge mit großem Hebel: ein höflicher, kurzer Mail-Entwurf in zwei Minuten statt zehn. Eine saubere Stichpunktliste nach einem Call, ohne dass jemand mitschreiben musste. Eine Excel-Formel, die endlich funktioniert. Eine erste Folie, die eine Idee strukturiert. Und ja: schnelle Übersetzungen, damit internationale Abstimmungen laufen. Der Reiz ist immer derselbe – sofortige Entlastung ohne Ticket bei IT oder stundenlange Schulung. Die Kehrseite ist: Ohne Unternehmenskontext wirken Antworten schnell generisch oder unpräzise. Genau deshalb plädiere ich dafür, Firmenwissen wie Policies, interne Bezeichnungen, FAQ usw. dorthin zu bringen, wo die Fragen entstehen: in die KI-Arbeitsoberfläche selbst. Dann bleiben die Vorteile erhalten, und die Qualität steigt.

Viele Unternehmen fürchten Schatten-KI – aber lässt sich darin nicht auch ein wertvolles Signal für Innovationsbedarf erkennen?

Unbedingt. Wenn Teams eine Hürde nach der anderen überspringen, nur um ein Tool nutzen zu können, dann ist das ein sehr klares Signal: Hier ist Druck, hier steckt Potenzial. Die Aufgabe der Führung ist nicht, das zu ersticken, sondern diese Energie zu kanalisieren – mit einem klaren „So geht’s richtig“ und mit Beispielen aus dem echten Alltag. Sobald transparent ist, was erlaubt ist, welche Daten hinein dürfen und wie Ergebnisse gegengecheckt werden, kippt die Dynamik: aus Grauzone wird Routine.

Wenn Schatten-KI so deutlich zeigt, wo im Unternehmen tatsächlicher Bedarf besteht – wie gelingt es dann, aus dieser ungeplanten Nutzung eine strukturierte, gesteuerte KI-Strategie zu entwickeln?

Indem man das, was bereits passiert, sichtbar macht und daraus lernt. Ich würde ganz pragmatisch anfangen: Sprechen Sie mit drei Teams, in denen heute schon „im Verborgenen“ gearbeitet wird, zum Beispiel im Vertrieb, im Kundenservice und in der internen Kommunikation. Lassen Sie sich typische Aufgaben zeigen, bei denen KI bereits hilft. Die Mitarbeiter aus den Fachabteilungen wissen immer noch am besten, wie ihre Use Cases aussehen. Deshalb halte ich einen gemischten Ansatz aus Bottom-up und Top-down für am sinnvollsten, um zu einer KI-Strategie zu kommen.

Warum bleibt die Wirkung vieler Enterprise-KI-Lösungen trotz Lizenz oft hinter den Erwartungen zurück?

Weil eine Lizenz noch keinen Arbeitstag verändert. Wirkung entsteht dort, wo Antworten mit Kontext kommen: mit Zugriff auf die richtigen Dokumente, die korrekte Firmenterminologie, die aktuelle Preisliste. Fehlt dieser Kontext – und fehlen Verantwortliche, die das Thema pflegen – dann bleibt es beim spielerischen Testen durch ein paar Enthusiasten. Genau das zeigen Berichte seit Monaten: Viele Initiativen produzieren keine messbaren Verbesserungen, solange die Unternehmen die Veränderung nicht aktiv gestalten und begleiten. 

Was braucht es aus Ihrer Sicht, damit ein KI-Rollout nicht nur technisch funktioniert, sondern auch in der Organisation ankommt?

Ein Rollout wirkt, wenn er wie eine neue Arbeitsweise behandelt wird, nicht wie ein IT-Projekt. KI ist für die meisten Mitarbeitenden die wohl weitreichendste Veränderung der Arbeit seit Beginn ihrer Karriere. Dieser Tragweite muss man mit einem entsprechenden Change Management Programm gerecht werden.

Hier ein paar konkrete Tipps:

  1. Klare Zuständigkeiten: Eine Projektleitung, die die Anwendungsfälle verantwortet; ein technische Leitung, die Zugänge und Datenquellen pflegt; und eine Person für Risk- und Legal-Themen, um bei Grenzfragen schnell zu entscheiden.
  2. Sponsorship von ganz oben: Die Geschäftsleitung sollte die Unterstützung für KI ganz klar kommunizieren, ggf. sogar verbunden mit Erwartungen.
  3. Klare Regeln für die Nutzung: Eine Chatoberfläche ist anders als übliche Software. Statt ein paar vordefinierter Knöpfe kann man quasi alles eingeben. Um Sicherheit und Vertrauen zu schaffen, sollte es klare Regeln geben. Am besten auf maximal einer Seite.
  4. KI-Ambassadoren: In jeder Abteilung sollte es einen speziell geschulten KI-Profi geben, der an Ort und Stelle unterstützen kann.
  5. Messbarkeit: Wir zählen nicht nur Zugriffe, sondern schauen, ob z. B. die Bearbeitungszeit für ein Angebot sinkt oder die Erstantwort im Support schneller wird. So entsteht Vertrauen—und Routine.

Ich empfehle Ihnen dazu auch einen Leitfaden, in dem wir über 50 Studien und die Erfahrung von mehr als 30.000 Mitarbeitenden gebündelt haben – mit klaren Beispielen, einfachen Regeln und einem Fahrplan, der in der Praxis funktioniert. Das Ganze heißt „AI Rollout Playbook 2026“ – hier geht’s zur Ausgabe.

Viele Unternehmen investieren in zentrale KI-Zugänge und Governance – aber wann wird aus strukturierter Nutzung echte Wertschöpfung? Und ab wann lohnt sich der nächste Schritt Richtung KI-Agenten?

Wertschöpfung beginnt, wenn Arbeit spürbar leichter wird: wenn ein Vertriebsteam aus verstreuten Notizen in Minuten eine saubere Angebotsbasis baut; wenn ein Serviceteam Standardfälle halbautomatisch vorbereitet und so mehr Zeit für knifflige Tickets hat. In solchen Momenten entstehen wiederverwendbare Bausteine – Prompts, Checklisten, kleine Snippets – und die gehören in einen sichtbaren Wissensort. Wenn diese Artefakte leben und Teams sie tatsächlich nutzen, lohnt es sich, die Automatisierung zu vertiefen: Erst einzelne Schritte, dann Agenten, die definierte Aktionen übernehmen. Das funktioniert aber nur, wenn Zugriffsrechte, Datenquellen und Eskalationswege geklärt sind – sonst automatisiert man Unsicherheit.

Woran erkennt ein Unternehmen, dass es bereit ist für KI-Agenten – also nicht nur für Antworten, sondern für echte Prozessunterstützung?

An vier simplen Beobachtungen: Die Nutzung ist stabil und konzentriert sich auf ein paar priorisierte Abläufe. Die Antworten sind konsistent, weil das interne Wissen gut erschlossen ist. Rollen und Freigaben sind geklärt, es gibt einen klaren „Wer darf was?“. Und es existiert eine kleine Community im Unternehmen—Kolleg:innen, die Fälle teilen, Vorlagen verbessern und Probleme schnell eskalieren. Wenn das alles stimmt, ist ein Agent kein Sprung ins Ungewisse, sondern die logische Fortsetzung dessen, was ohnehin funktioniert.

KI-Agenten sind aktuell stark im Fokus – was erleben Sie in der Praxis? Wo liegen die größten Missverständnisse oder Hürden?

Das größte Missverständnis ist, Agenten als reines Technik-Upgrade zu betrachten. In Wahrheit geht es um Betrieb: Wer darf welche Aktion auslösen? Mit welchen Daten? Was passiert im Ausnahmefall? Zweites Missverständnis: „Bessere KI-Modelle lösen das Problem.“ Ohne Zugriff auf das Firmenwissen bleiben Ergebnisse generisch, egal wie gut das Modell ist. Und drittens überschätzen viele den Schulungsbedarf und unterschätzen die Kraft kleiner, konkreter Erfolgserlebnisse. Die besten Einführungen sammeln erst belastbare Beispiele im Tagesgeschäft – und erhöhen erst dann die Automatisierungstiefe.

Woher weiß ein Unternehmen eigentlich, dass seine KI-Initiative funktioniert – gibt es Indikatoren für echte Wirkung und organisationalen Reifegrad?

Ja, und man sieht sie schneller, als man denkt. In den ersten Wochen fallen zwei Dinge auf: Zum einen verlagert sich Kommunikation – Mitarbeitende teilen gute Beispiele, und andere greifen sie auf. Zum anderen werden ein paar Arbeitsabläufe messbar schneller oder konsistenter. Ab diesem Punkt tauchen typische Artefakte auf – Rollen-Prompts, kleine Leitfäden, „So machen wir das hier“-Beispiele – und es bildet sich ein zentraler Ort, an dem diese Dinge leben. Wenn das passiert, kippt das Mindset: KI ist nicht mehr „ein Tool“, sondern ein Arbeitsprinzip. Und ja: Im europäischen Vergleich ist noch viel Luft nach oben – die breite, offizielle Nutzung steckt erst am Anfang, selbst in großen Unternehmen.

Vielen Dank, Herr Marquardt, für das Gespräch. Sie haben gezeigt, dass viele Unternehmen schon längst mit KI arbeiten – nur oft ohne klare Strukturen. Wer das ernst nimmt und gezielt aufgreift, kann viel bewegen. Aus Schatten wird dann Routine – und aus einzelnen Ideen wird echte Wirkung.

Sie möchten KI gezielt im eigenen Unternehmen einsetzen – wissen aber noch nicht, wo anfangen? Unser regelmäßig stattfindender Workshop zu KI-Agenten bietet einen praxisnahen Einstieg und zeigt, wie erste Schritte gelingen können – ohne Vorkenntnisse, aber mit klarem Blick auf die Realität in kleinen und mittleren Unternehmen. Alle aktuellen Termine und viele weitere Angebote finden Sie hier.

Jan Marius Marquardt ist Gründer und CEO des KI-Startups ZIVE. Als mehrfacher Tech-Unternehmer bringt er umfassende Erfahrung im Aufbau und der Skalierung digitaler Geschäftsmodelle mit. Vor ZIVE führte er unter anderem Haiilo und Neue Fische erfolgreich zu Private-Equity-Exits. Heute unterstützt er Organisationen dabei, KI-basierte Produkte wirksam in den Alltag zu bringen – mit einem besonderen Fokus auf praktische Anwendung, Reifegrad und technologische Anschlussfähigkeit.

Text: Alexander Krug

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